Behrendt, Joachim-Ernst; Das Jazzbuch
Flora Purim hat in ihrer Anfangszeit gelegentlich auch Freien
Jazz gesungen und leitet damit in die Gruppe der Sängerinnen
des Free Jazz über: Die ersten waren, bereits in den sechziger
Jahren, die Amerikanerin Jeanne Lee und die Norwegerin Karin
Krog. Dann folgten die Engländerinnen Norma Winston, Julie
Tippetts und Maggie Nichols, die Polin Urszula Dudziak, Jay Clayton,
die Holländerin Greetje Bijma, die Russin Valentina Ponomareva,
die DDR-Deutsche Uschi Brüning, die Greko-Ameikanerin Diamanda
Galas und die Amerikanerin Lauren Newton. Diese Sängerinnen
haben die Dimension der "Stimme als Instrument" bis
in Bereiche ausgedehnt, die noch vor wenigen Jahren unvorstellbar
schienen. Gesang heißt für sie nicht nur singen, sondern
auch schreien, lachen und weinen; das Stöhnen der sexuellen
Erfahrung so sehr wie kindlichen Geplapper; der ganze Körper
vom Unterleib bis in die Bereiche der Stirnhöhle und der
Schädeldecke wird Instrument, wird vibrierender Sound-Erreger,
wird Klangkörper. Über die ganze Skala menschlicher-und
gerade auch weiblicher- Laute wird hier verfügt. Nichts
Menschliches, nichts Organisches scheint dieser Geräuschskala
fremd zu sein. Hemmungslos wird herausgeschrien, herausgestöhnt,
herausgestoßen, was zu einem bestimmten Song, zu einer
Stimmung oder Atmosphäre gehört- und doch ist es nur
eine scheinbare Hemmungslosigkeit, denn all diese Sounds müssen
ja auch gestaltet, gemeistert, musikalisch integriert werden.
"Stimme als Instrument" - das ist ein Ausdruck, der sinnvoll immer
nur relativ verwendet werden kann. Was in den zwanziger Jahren bei Adelaide Hall
im Duke Ellington-Orchester als ein Non-Plus-Ultra instrumentaler Stimmbehandlung
erschien wurde in den Dreißigern von Kay Davis, seit den Vierzigern von
Ella Fitzgerald, in den Fünfzigern von der indianischen Sängerin Yma
Sumac, in den Sechzigern von Jeanne Lee und Karin Krog und in den siebziger Jahren
von Urszula Dudziak, in den Achtzigern von Lauren Newton überboten, wobei
jede dieser Stimmen jeweils als nicht überbietbares Endstadium gepriesen
wurde. So also wird es weitergehen.
...Über die vielleicht größte stilistische Spannweite all dieser
Sängerinnen verfügt die aus Oregon stammende und mit dem Vienna Art
Orchestra bekannt gewordene Lauren Newton. Sie hat auch alte Barockmusik und
moderne Konzertmusik - Schönberg und Ligeti etwa - studiert und bringt
all diese Erfahrungen in ihre ungeheuer leichte, vor Ideen funkelnde, geistreiche
Improvisationsweise ein. Lauren: "Ich kann im Jazz Dinge wagen, die zu
tun man sich in der modernen Konzertmusik einfach nicht getrauen würde.
Jazz gibt mehr Freiheit, aber Jazz verlangt auch mehr."